Die Krone der Schöpfung
Kurz bevor es losging mit der Pandemie, hatte ich eine Ehekrise. Ich hatte schon öfter mal Ehekrisen, aber zur Scheidung kam es dann doch nie, da immer irgendetwas passierte, das uns wieder zusammenführte. Dieses Mal hatte ich bereits einen Mietvertrag unterschrieben und einen Scheidungsanwalt engagiert. Und ich sagte dem Leben bzw. Gott bzw. dem Universum ganz offen und direkt „Wenn du wieder vorhast, diese Trennung zu verhindern, dann musst du dir aber dieses Mal etwas ganz Ausgeklügeltes überlegen, denn für mich gibt es keinen Weg zurück.“ Und dann kam Corona.
Ich bin also geblieben. Und wir haben Rollen getauscht. Ich, die es verabscheut, den ganzen Tag vorm Bildschirm zu sitzen und irgendwas in die Tasten zu tippen, sitze den ganzen Tag vorm Bildschirm und tippe irgendwas in die Tasten. Mein Mann kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Hatte ich mir nicht so einen Tausch mal herbeigewünscht? Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir einen Rollentausch herbei! Und in der Tat, ich glaube, er tut uns beiden sehr gut. Bringt mal frischen Fahrtwind unter den Arsch. Nur scheiße, dass man nirgendwo hinfahren kann. Wir stecken hier also so ein bisschen fest miteinander. Unser Sohn Yuma dreht fast durch, zwei Stunden täglich stillsitzen und seiner Lehrerin aufmerksam auf dem IPad zuhören zu müssen. Er ist drei. Er begreift nicht, dass es wichtig ist, mit dem Unterricht weiterzumachen. Das kann ich so gut nachvollziehen. Aber der Papa hat da jetzt das Sagen. Unsere Tochter Olive wirft sich ständig eine Tasche über die Schulter und sagt „Vamonos“. Sie ist eins. Sie versteht nicht, warum wir nicht einfach auf den Spielplatz fahren können. Und beide machen so gut mit. Manchmal habe ich das Gefühl, sie halten hier das Haus zusammen. Sie stecken uns an mit ihrer Lebensfreude und erinnern uns immer wieder daran, in allem das Schöne zu sehen. Sie denken sich ganz natürlich neue Spiele aus und begeistern sich auf authentische Art und Weise für die kleinen Dinge des Lebens. Wenn wir zum Beispiel einen Marienkäfer auf der Fensterscheibe entdecken, dann können wir ihn dabei verfolgen, wo er hinfliegt, ihn auf die Hand nehmen, ihn fasziniert und erstaunt über unseren Körper krabbeln lassen, uns einen Namen für ihn überlegen, mutmaßen, wo er wohl herkommt und wo seine Familie ist, was er wohl am liebsten macht und wo er hinwill. Irgendwie stellen sich Kinder ganz automatisch die wichtigen Fragen des Lebens. Sie sind wundervoll, bezaubernd, herzerfrischend und ansteckend. Aber sie sind auch kleine Biester. Sie nehmen dir dein Handy weg und schicken aus ihrem Versteck ungewollte Fotos und Nachrichten an deine Freunde. Sie löschen dir bei der Arbeit Emails. Sie malen die Wände mit Filzstiften an. Sie zerbrechen Spielzeuge. Sie stecken ihre Hände in die Kloschüssel und schmieren sich das Wasser in die Haare. Sie finden deine Lieblingsschokolade und essen sie auf. Sie schubsen und hauen sich, nehmen sich gegenseitig die Spielsachen weg und hüpfen auf dir rum, wenn du dich kurz auf den Boden legst, weil du unbedingt einen Moment Ruhe brauchst. Ach ja, es war eine schwierige und gute Zeit. Wenn es mir gelingt, nicht zu schimpfen sondern einfach zu lachen und die Spontaneität und Lebensfreude meiner Kinder zu genießen, dann umarmen und küssen sie mich, sagen mir wie lieb sie mich haben und mein Herz schmilzt. Dann tanzen und singen wir, verwandeln uns in Supermänner und fliegen durch das Haus. Und für einen Moment vergesse ich, dass ein Virus um die Welt fliegt und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Und das ist gut so. Denn so wichtig es ist, aufzupassen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, so wichtig ist es auch, nicht aus den Augen zu verlieren, wozu wir hier sind: Ich bin überzeugt, wir sind hier, um zu leben und nicht, um uns aus Furcht vor dem Tod, vor dem Leben zu verstecken. Ich liebe dieses Zitat im Vorspann einer meiner Lieblingsfilme Point Break: ‚There are some who do not fear death, for they are more afraid of not really living.‘ Ich mache mir jetzt wahrscheinlich keine Freunde mit dieser Aussage, aber das ist auch gar nicht meine Absicht. Ich will aufwecken. Ich will Bewusstsein erweitern. Aber ich bin nicht kaltherzig. Und auch nicht erleuchtet. Ich bin genauso auf der Reise wie wir alle. Ich sorge mich auch um Menschen die gefährdet sind, und zwar besonders dann, wenn sie mir sehr nahestehen. Ich bin überzeugt, dass wir alle eins sind und alle miteinander verbunden. Aber ich glaube, die meisten von uns sind schlichtweg um ihre direkten Familienmitglieder am meisten besorgt. Und ich finde das zutiefst menschlich. Was ich zutiefst unmenschlich finde, erst recht seit ich eigene Kinder habe, ist, wie jemand seine eigenen Kinder verletzen kann. Ich verstehe, dass diese Krise für uns alle hart ist, für einige härter als für andere. Und ja, Kinder können schwierig sein, besonders dann, wenn man sie vernachlässigt, aber sie können nichts dafür, dass sie mit ihren Eltern zuhause eingesperrt sein müssen, im Gegenteil, sie würden sich das wahrscheinlich im Leben nicht aussuchen und können es sicher in vielen Fällen noch nicht einmal fassen. Ja, ich finde es auch scheiße und es hat mich wirklich hart getroffen, aber ich kann doch mal einen Moment inne halten und kapieren, dass ich Erfahrungen und Erkenntnisse habe, die mir helfen, Klarheit im Geist zu bewahren und meinen Kindern beizustehen, ihnen zuzuhören, ihnen Dinge zu erklären, für sie da zu sein und auch zu durchschauen, dass manche ihrer Reaktionen verständlicherweise übertrieben sind. Leute, das ist unsere Chance aufzuwachen und gemeinsam eine bessere Welt zu erschaffen! Welche Welt gestalten wir wohl, wenn wir unsere Kinder schlagen, misshandeln, verprügeln? Hört doch bitte endlich auf damit! Das musste ich einfach mal loswerden. Aber jetzt zu mir. Ich habe viel gearbeitet. Aber ich habe mir auch die Zeit genommen, nach innen zu gehen. Ich habe die Krise persönlich genommen. „Ok, wenn du mich jetzt schon dazu gebracht hast, zuhause zu bleiben, was willst du mir sagen?“ Und da ist so einiges gekommen. Alles ging darum, dass es so nicht weitergehen kann. Mit so meine ich, so wie ich gelebt habe, so wie wir gelebt haben. Mir geht dieses ständige „Ja, aber so haben wir es doch schon immer gemacht, also warum sollten wir es jetzt ändern?“ gehörig auf den Sack. Ich will hier niemanden angreifen, ich spreche immer mit mir selbst, aber wenn sich jemand anderes angesprochen fühlen will, dann sei er/sie herzlich willkommen. Ich habe mich schon mehrmals für mehrere Monate vegan oder vegetarisch ernährt. Dann war ich irgendwo zum Grillen eingeladen, habe schöne Musik gehört und leckeren Wein getrunken und dann ging es wieder los „Ach was soll‘s, ich habe es so lange durchgehalten, und wir sind nun mal Fleischfresser, also zumindest ich, denn ich habe ja die Blutgruppe 0 und außerdem bekomme ich Mangelerscheinungen, wenn ich kein Fleisch esse, und die Fleischersatzprodukte sind auch einfach eklig und blablabla“ Es ist mir peinlich, das zu schreiben, aber wie soll ich sonst andere Menschen erreichen, als wenn ich mich nackt und echt zeige. Ich könnte auch so tun, als wäre ich ganz toll und hätte alles gecheckt. Aber da habe ich keinen Bock mehr drauf. Eines Abends als ich Musik hören wollte, habe ich Youtube geöffnet plötzlich stand da was von Berge und 10.000 Tränen. Hab ich mir mal angehört. Und nochmal. Und nochmal. Und ich habe geheult und geheult und geheult. Was mache ich hier eigentlich, was erzähle ich mir eigentlich für einen Scheiß? Dass Fleisch lecker ist und wichtige Eiweiße hat? Echt? Und dafür nehme ich in Kauf, mitverantwortlich zu sein, für all das Leid, das auf dieser Welt geschieht? Nein! Halt! Stopp! Das ist vorbei für mich. Aber trotzdem möchte ich niemanden verurteilen. Ich habe wie gesagt selbst immer wieder genug Fleisch gegessen und nur weil ich jetzt entschieden habe, ein für allemal damit aufzuhören, müssen das nicht alle anderen auch tun. Aber vielleicht habt ihr ja auch trotzdem Lust, euch zu fragen, was diese Krise euch zu sagen hat. Ich habe für mich noch so viel mehr entdeckt. Ich habe dieses Zitat von Krishnamurti gelesen ‚That is the only thing to do: to change completely, radically, immediately‘ und habe sofort die Resonanz gespürt. Ja! Ändern! Jetzt! Alles! Sofort! In den ersten Tagen von Corona habe ich viel ferngesehen. Vor allem, da mein Mann jeden Abend fernsieht und ich mir dachte, es wäre ein guter Weg, sich einander wieder anzunähern. Das glaube ich jedoch nicht mehr. Ich glaube, es kann zusammen Spaß machen, wenn alles gut ist, aber es hilft ganz bestimmt nicht, sich näher zu kommen. Außerdem bekomme ich meistens Kopfschmerzen davon (es sei denn, es ist ein wirklich guter Film, was jedoch selten vorkommt). Wenn es nach mir ginge, dann auf jeden Fall ‚Throw away your television!‘ Ich habe die letzten zwei Monate keinen Film mehr gesehen und die Zeit für sinnvolle Dinge genutzt! Hammer! Kann ich weiterempfehlen! Ich schreibe zum Beispiel gerade diese Worte statt fernzusehen. Und höre dabei Random Access Memories. Kein Vergleich! Es geht mir insbesondere darum, Dinge zu tun, die mein Herz öffnen, die mir guttun, die mir Freude bereiten, die mich näher zu mir selbst bringen. Was sind nun also diese Dinge? Zum Beispiel Zeit mit meinen Kindern verbringen, mich vegan ernähren, schreiben, Musik hören. What else? Ich glaube, was neu und wichtig ist, ist auch das nach außen gehen. Meine Kinder, vegane Ernährung, Literatur, Musik, all das ist gut für mich, aber hat noch nichts damit zu tun, nach außen zu gehen. Ich behalte das alles bislang für mich. Denn ich habe mich von den Gedanken ‚Ich bin einfach so wie ich bin noch nicht gut genug; was ich zu sagen habe, ist noch nicht wichtig genug, um gesagt zu werden. Ich muss erst noch dies und das lernen, so und so aussehen, bis ich der Mensch sein kann, der dann gut genug ist, um an die Öffentlichkeit zu gehen.‘ Falls das jemand liest, der weiß, wovon ich spreche, hier ein Rat von Mensch zu Mensch (ich habe mir diesen Rat selbst gegeben): „Hör auf mit dem Bullshit! Du wirst nie perfekt sein und doch bist du es längst! Wenn es etwas gibt, das du mit der Welt teilen möchtest, dann tu es einfach! Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Sollte ich mein ganzes Leben lang warten und mir dann vor Wut in den Arsch beißen? Schon als ich acht war, wollte ich ein Buch veröffentlichen. Und was soll ich sagen, geil, es ist so geil, dass ich es endlich getan habe. Das war mein Ziel, mit dem ich aus der Krise rausgehen wollte, eines meiner Ziele, mein wichtigstes Ziel. Und ich bin so überglücklich, dass ich es getan habe. Es war irgendwie völlig überstürzt, denn ich hatte weder eine Webseite, Facebook, Twitter noch sonst die geringste Ahnung, wie und wo ich Werbung dafür machen sollte. Aber ich spürte einfach Jetzt oder nie und ich bereue es nicht. Etwas, das ich mir zum Beispiel schon immer gewünscht habe, ist, dass ich jemanden zum Laufen animieren kann durch meine Worte. Ich laufe schon seit ich sechzehn bin, mal mehr, mal weniger, aber ich habe nie aufgehört. Als ich Born to run gelesen habe, bin ich jeden Tag gelaufen und zum ersten Mal in meinem Leben eine Ultra-Marathon-Distanz. Einfach nur so, für mich selbst, weil ich Bock hatte. Dieses Buch hat mich enorm motiviert und inspiriert. Ich habe jetzt schon die erste Nachricht von einer Leserin erhalten, dass sie durch das Lesen von Raw Café mit dem Laufen angefangen hat. Unbeschreiblich! Das ist nicht nur so daher gesagt: ‚In einem Menschenleben einen kleinen positiven Unterschied machen zu können ist all die Arbeit und das Herzblut mehr als wert.‘ Für mich ist Laufen, und das wird jeder merken, der meine Geschichte liest, das Größte. Es ist mein Lehrer fürs Leben. Von ihm habe ich so viele wichtige Lektionen gelernt. Aber vor allem ist es meine Meditation, meine Energie, meine Kraftquelle, mein Ausgleich, meine Glückseligkeit. Laufen, schreiben, meine Kinder, die Natur. Auch wird man in meinem Roman feststellen, dass es noch andere Dinge und Menschen gibt, die ich liebe, aber diese sind mir am wichtigsten und ich habe mich während der Zeit zuhause ganz bewusst wieder intensiver mit ihnen beschäftigt.
Jetzt ist die Quarantäne fast vorbei und nach einigen Monaten, in denen ich es wirklich genossen habe, nach innen zu gehen, bin ich nun mehr als bereit für das Außen. Und hier beginnt meine wirkliche Krise. Ich habe mich soviel damit beschäftigt, dass dieses Außen etwas Neues, Frisches, Revolutionäres sein sollte, kann nicht mehr viel mit einem Gedanken der alten Realität anfangen. Damit scheine ich leider noch relativ allein zu sein. Dennoch spüre ich gerade eine große Aufbruchwelle, ganz viele Menschen wollen wieder raus. Doch was bedeutet wieder raus? Heute war ich zum ersten Mal mit meinen Kindern bei einem Playdate. Wir wurden nicht ins Haus gelassen, sondern in der Garage begrüßt. Diese wurde mit Geschenkband in zwei Hälften geteilt. Die Trennung ging von der Garage aus in den Vorhof. Auf jeder Seite des Geschenkbands waren ein paar Spielsachen aufgebaut, einige für meine Kinder, andere für die Kinder meiner Freundin. Dazu passend stand ein Klappstuhl für mich auf meiner Seite und einer für sie auf ihrer Seite. Es wurde nun von Yuma und Olive erwartet (nur kurz zur Erinnerung: drei und eins), dass sie auf ihrer Seite bleiben. Meine Kinder sind Menschen und sie lieben andere Menschen, lieben es zu spielen und sind freie Seelen. Sie haben ihre Freunde seit fast drei Monaten nicht gesehen. Ein Geschenkband war zwischen ihnen. Natürlich sind sie darunter durchgelaufen. Natürlich wollten sie ihre Freunde umarmen. Natürlich waren irgendwie die Spielsachen auf der anderen Seite des Geschenkbands interessanter. Hat nicht so ganz geklappt mit der netten Idee. Meine Freundin hat sich dann überlegt, ein Eis kaufen zu gehen. Yuma hat das gehört, und da er schon nicht mit seiner Freundin spielen konnte, die er so sehr vermisst hatte, wollte ich ihm nicht auch noch das Eis versagen. Wir sind also zusammen ins Stadtzentrum spaziert. Ich mit meinen Kleinen immer ein paar Meter hintenan, damit wir uns bloß nicht zu nahekommen, ihnen ihre Masken geraderückend (können wir bitte diese unsinnige Maskenpflicht abschaffen?) und sie bei mir haltend. Sie wollten loslaufen, in die Welt laufen, doch wir mussten uns zusammenreißen, und meine Kinder haben das so toll gemacht. Ich habe gemerkt, wie schwer es ihnen gefallen ist und wie gut sie es gemanaged haben. Sie hatten sich ihr Eis mehr als verdient. Ist aber mit Kleinkindern gar nicht so leicht, ein in der Sonne schmelzendes, kleckerndes Eis unter einer Plastikhaube zu verspeisen und dabei an einer Stelle stehen zu bleiben und keine abgesperrten Bänke, Mülleimer, Passanten oder seine Freunde zu berühren. Die knallende Sonne machte es nicht unbedingt einfacher. Ich war ganz schön gerockt danach. Ich ärgerte mich ein bisschen, dass ich überhaupt gekommen war. Doch dann geschah es plötzlich: wir liefen durch die Straßen von San Miguel, Yuma war so glücklich, dass er das alles so gut gemeistert und sein Schokoladeneis bekommen hatte, hielt zufrieden meine Hand und Olive war müde und erschöpft und schlief friedlich in meiner Umarmung ein. Nie werde ich diesen Moment vergessen. Er scheint gar nicht so bedeutend zu sein, aber es kommt ja alles immer auf die Perspektive an. Mein Sohn ist auf meinem Arm eingeschlafen bis er fast zwei Jahre alt war, jeden Abend habe ich ihn in den Schlaf gewiegt und er hat sich an mich gekuschelt. Meine Tochter wollte das nie. Ich habe immer versucht, ihren Kopf auf meine Schulter zu legen, doch sie hat sich wieder nach hinten gedrückt. Yuma hat ganz früh laufen gelernt und wollte seitdem entweder getragen werden oder alleine durch die Gegend rennen. Und da hielt er plötzlich meine Hand, ganz liebevoll und fest, und Olive schlief friedlich, ihren Kopf auf meine Schulter gelehnt. Epic! Und ich begriff mal wieder, die schönsten Momente finden sich oft in Situationen, die wir so eigentlich gar nicht wollten.