Eine neue Frau
Mir wurde in meinem Leben viel darüber erzählt, was ich kann und was ich nicht kann. Und ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich vieles davon geglaubt. Die Paradigmen sind zum Teil einfach so in die Köpfe der Menschen eingehämmert, dass sie einem selbst dann als Realität erscheinen, wenn man in sich spürt, dass sie nicht wahr sein können. Man misstraut eher der Stimme in sich als den Hirngespinsten seiner Mitmenschen. Eigentlich krass.
Ich hatte das große Glück, dass mich meine Eltern schon früh gesehen und immer darin unterstützt haben, ich selbst zu sein. Aber irgendwie haben wir alle einen Chip drin, der dafür sorgt, dass wir erstmal imitieren, um dazuzugehören. Wir wollen alle dazugehören und irgendwo ist da unterwegs etwas schiefgelaufen und wir haben vergessen, dass es unser Geburtsrecht ist, dazuzugehören, ohne irgendjemandem irgendetwas beweisen zu müssen. Wir sind nicht hier, um wie die anderen zu sein, davon gibt es ja schon genug. Von den anderen und von denen, die versuchen, wie die anderen zu sein. Zum Glück gibt es auch diejenigen, die das nicht tun oder damit aufhören, es zu tun, wenn sie den Betrug erkennen. Diejenigen, die anders sind, anders denken, anders leben. Nur das Gefährliche daran ist, dass diese Menschen in ihrem Anderssein schnell übersehen, dass auch sie noch gefangen sind im System der Gehirnwäsche, es sich eben nur nicht so deutlich zeigt. Und wenn sich etwas nicht so deutlich zeigt, dann ist auch nicht so rasch das Bedürfnis da, es zu ändern.
Wie frei bin ich denn zum Beispiel, wenn ich das Gefühl habe, ich kleide mich, wie ich will und laufe nicht den Trends der Modeindustrie hinterher, trotzdem aber, wenn auch unbewusst, durch meine Kleidung versuche, einer bestimmten Gruppe Mensch anzugehören, ein bestimmtes Lebensgefühl auszudrücken? Wie frei bin ich denn, wenn ich in meiner Beziehung versuche, meinen Partner von meinen Werten zu überzeugen und doch immer wieder erlaube, dass er sie verletzt? Wie frei bin ich denn, wenn ich glaube, ich entscheide ganz allein, was ich esse und was nicht, aber durch Erfahrungen in meiner Kindheit so sehr an bestimmte Lebensmittel gewöhnt bin, dass ich gar nicht mehr merke, dass ich sie eigentlich weder brauche noch mag? Wie frei bin ich, wenn ich immer mache, was ich will, aber gar keine Werte für mich aufgestellt habe, nach denen ich lebe? Wie frei bin ich, wenn ich mir einen Mann aussuchen kann und sogar glaube, dass ich auf Männer stehe und dazu stehen könnte, wenn ich Frauen lieben würde, meine Konditionierung aber so tief ist, dass ich gar nicht merke, dass ich der Norm hinterherlaufe, möglichst erfolgreich im Sinne der gesellschaftlichen Standards zu sein. Ich bin Europäerin, weiß, groß, schlank, gebildet, habe einen Mann, zwei Kinder, ein Haus, ein Auto und einen guten Job. Gar nicht so weit entfernt vom Ideal. Nur Zufall? Oder bin ich viel mehr konditioniert als ich wahrhaben will? Wenn es da doch nur nicht dieses kleine große Problem an mir geben würde: Ich bin eine Frau. Was ist eine Frau in der heutigen Welt? Das sozial benachteiligte Geschlecht, das um Gleichberechtigung kämpfen muss? Wirklich? Immer noch? 2020?
Es gibt Frauen, die einen auf Mann machen, sich männliche Züge aneignen, hart werden, um zu beweisen, dass sie genauso viel auf dem Kasten haben wie Männer. Frauen, die die Männer verurteilen und für die Ungleichstellung verantwortlich machen, sich dann aber so benehmen, als wären sie selbst ein Mann und als wäre es viel toller, ein Mann zu sein. Wer ist denn nun für die Ungleichstellung verantwortlich? Und dann gibt es Frauen, die in ihrer Ehe ungerecht behandelt werden und nichts dagegen tun, dann aber hoffen, dass es ihrer Tochter irgendwann besser ergeht. Wie denn, wenn sie ihr die ganze Zeit vorgelebt haben, nichts gegen die Ungerechtigkeit zu tun? Es ist Zeit, dass wir Frauen aufstehen. Und zwar jetzt!
Es ist toll, eine Frau zu sein. Es ist geil, so geil! Wir Frauen haben so eine tiefe innere Stärke, unerschütterliche Stärke. Die hilft uns nicht, uns zu wehren, wenn uns jemand körperliche Gewalt antut, doch aber, weise und gefasst mit dem Schmerz umzugehen und Resilienz zu kultivieren. Und wir können noch viel mehr als das. Ich bin sicher, wir können unsere Power dahingehend trainieren, dass sich niemand mehr wagt, uns anzufassen. Wenn wir uns daran erinnern, wer wir sind und zusammenhalten. Wir haben eine tiefe Weisheit und Verbindung zu Mutter Erde. Diese Verbindung nährt und heilt uns. Auch Männer tragen sie in sich, doch durch das Leugnen und Herabwürdigen dieser Weiblichkeit in uns, haben die meisten sie verloren. Wir leben getrennt von unseren Wurzeln, getrennt von Mutter Erde und darum fällt es uns so schwer, unsere innere Stimme zu hören, geschweige denn, ihr zu vertrauen. Und darum ist es so leicht, uns zu regieren, zu führen, zu manipulieren. Schluss damit!
Es ist so viel Wut in mir! Unser ganzes Leben lang wurden uns Lügen darüber erzählt, wer wir sind und wer wir sein sollen. Eine davon ist, dass wir Frauen immer lieb und leise sein sollen. Eine Frau hat doch keinen Wutanfall, und wenn doch, dann stimmt etwas nicht mit ihr. Eine Frau kann sich zusammenreißen. Und alles in sich reinfressen. Bis sie krank wird. Und schwach. Dann kann man sie noch besser kontrollieren. Doch wir Frauen erinnern uns jetzt an unseren Scharfsinn. An unsere Macht. An unsere Anmut. An unsere Würde. Wir haben es nicht nötig, so zu tun, als seien wir wie Männer. Männer sind auch schön, ja, aber wir haben unsere ganz eigene Schönheit. Und zu der gehören Sanftheit und Fürsorge genauso wie Wut und Feuer. Unsere Wut ist nicht böse und auch nicht wahnsinnig. Wir tragen in unserem Zentrum die Kraft des Eros und die will brennen. In Liebe und Hingabe, aber auch in Zorn und Leidenschaft. Unser Blut ist nicht schmutzig, unsere Körper sind nicht befleckt. Sie sind rein, pur, echt, verletzlich, stark, frei, wild und wundervoll. Wir haben uns verleugnet in einer Welt, in der es toll ist, ein Mann zu sein. Aber wir sind der Schlüssel, den Schaden zu heilen, der dadurch entstanden ist. Diese Welt ist voll von Hass, Gewalt, Krisen, Trennung, Korruption, Depression, Ausbeutung, Sucht und Zerstörung, weil uns die Verbindung zur Quelle fehlt. Im Namen der Männlichkeit werden irgendwelche Gesetze aufgestellt, um für Recht und Ordnung zu sorgen, doch das geht ganz offensichtlich komplett nach hinten los. Wir Frauen sind das Bewusstsein, die Integrität, die wir brauchen, um aus dem Herzen zu leben, in Liebe zu leben. Wer in Liebe lebt, der braucht keine Gesetze, denn er trägt sein Gesetz in sich. Das Gesetz des Lebens. Es wird Zeit, dass wir uns erinnern.
Was ist die Rolle einer Frau? Wir sind sicher nicht dazu da, uns selbst für alle aufzugeben, uns zu zerreißen zwischen Arbeit, Weiterbildung, Kindererziehung und Haushalt. Wir müssen nicht kochen und backen können und wir müssen auch nicht aussehen wie ein Model. Sicher gibt es Frauen, die diese Kriterien erfüllen und das ist auch gut so, aber wir sind nicht dazu da, uns schön säuberlich zusammengefaltet in eine Schublade stecken zu lassen. Es gibt Frauen, die die medizinische Wirkung von Pflanzen kennen, die mit Bäumen sprechen können, die in tiefer Verbindung zur Natur leben und diese Verbindung in anderen heilen und nähren können. Es gibt Frauen, die mit anderen Menschen fühlen und über ein hohes Maß an Empathie verfügen. Wie können wir diese Stärken in der heutigen Welt nutzen? Wir können ein Vorbild dafür sein, dass wir in uns eine Quelle der natürlichen Erfüllung tragen, in uns und aus uns heraus tiefe Freude erfahren können. Wir brauchen dafür kein Netflix, Bier, Instagram oder Fastfood, um uns einen schnellen Kick zu geben, ein Gefühl der Befriedigung, das jedoch genauso schnell geht, wie es gekommen ist, während wir in uns eine unerschöpfliche Quelle wahrhaftiger Glückseligkeit tragen. Wir können vorleben, dass es nicht wahr ist, dass wir tierische Proteine brauchen, jedoch aber wohl, dass wir Sauerstoff zum Atmen brauchen. Wir können Verantwortung übernehmen für den Schmerz und das Leid auf dieser Welt. Wir können aufhören, Tiere zu essen und anfangen, uns für ihre Rechte einzusetzen. Wir können aufhören, einander zu diskriminieren aufgrund unserer Hautfarbe, Herkunft, Sexualität und anfangen, uns als Menschen wahrzunehmen, als Menschen zu behandeln, als Menschen zu fühlen. Wir können unser Handy weglegen und unsere Kinder ansehen. Wir können uns in ihren Augen daran erinnern, woher wir kommen. Wir können mit ihnen in die Natur gehen und ihnen Ursprünglichkeit, Freiheit, Natürlichkeit, Verbindung und Leben zeigen. Wir können ihnen beibringen, sich selbst zu lieben und die Gesellschaft in Frage zu stellen. Wir können sie darin unterstützen, sich niemals anzupassen, sondern sich ihre Einzigartigkeit zu erhalten, denn genau wie wir sind sie nicht hier, um als Teil eines Systems zu funktionieren, das längst überholt ist, sondern um in ihrer Kraft zu sein und zu erkennen, dass sie sehr wohl dazu in der Lage sind, das komplette System aus den Fugen zu heben und eine gänzlich neue Welt zu erschaffen. Und das wird sowieso geschehen. Entweder sind wir Teil dessen oder nicht. Entweder sind wir Teil der Lösung oder des Problems. Wir Frauen erinnern uns gerade immer tiefer, weiter, freier, wilder und entschlossener daran, wer wir sind. Die Welt ist schwanger mit einer neuen Frau und sobald diese geboren ist, kann und wird die Menschheit nicht mehr so existieren, wie sie ist. Es wird eine Gesellschaft geben, in der wir unser Essen selbst anbauen, in der wir kein Plastik mehr verwenden, in der wir im Einklang mit der Natur leben, in der wir alte Menschen ehren, in der wir uns umeinander kümmern, in der wir unsere Kinder darin unterstützen, ihre Essenz zu bewahren, in der wir lachen, tanzen, singen, in der wir nicht mehr arbeiten, sondern ganz natürlich dem nachgehen, was uns hilft, unserer Seele Ausdruck zu verleihen, in der nicht mehr die Angst herrscht, sondern die Liebe.
Und natürlich gibt es viele Frauen mit hervorragenden Führungsqualitäten. Wie sich jetzt in der Krise gezeigt hat, sind dies genau die Führungsqualitäten, von denen wir in der heutigen Welt noch viel mehr brauchen. Meiner Ansicht nach ist hier ein ganz wichtiger Punkt, dass wir Frauen eben nicht wie Männer sein wollen und auch mal die Führung übernehmen, weil wir beweisen wollen, dass wir das auch können, sondern dass wir unsere eigene Größe kennen und wissen, was wir zu bieten haben. Wir wollen nicht führen, um etwas zu beweisen, sondern wir sehen, dass gerade unsere weiblichen Stärken aktuell wichtiger sind denn je.
Wir Frauen sind wütend, weil unsere Werte immer wieder ignoriert werden. Vielleicht ist uns das noch nicht einmal bewusst, aber immer dann, wenn einer unserer Werte verletzt wird, spüren wir eine tiefe Wut und diese Wut wird größer, je näher der Tag unserer Geburt rückt. Wir können dann entweder schreien, um uns schlagen, verletzen, beschimpfen, anschuldigen oder wir können innehalten, unsere Wut spüren und nachfühlen, wo sie herkommt. Wir können unsere Werte erkennen und sie leben, wir können klare Grenzen ziehen und liebevoll aber bestimmt dafür sorgen, dass diese Grenzen nicht überschritten werden. Das sind die Grundlagen einer neuen Welt.
Ich habe diese Zeilen bei Taschenlampenlicht in einem Zelt geschrieben. Und mich zurückerinnert an einen Camping-Urlaub mit meinen Eltern als junges Mädchen. In der Nacht wollte meine Mutter auf Toilette gehen und suchte verzweifelt den Reißverschluss, um die Tür zu öffnen. Sie suchte auf der falschen Seite des Zelts und konnte natürlich den Reißverschluss nicht finden. Manchmal muss man sich nur umdrehen. Vielleicht ist die Tür sogar schon offen.