Der Frieden der Wildnis

Ich fragte Ezra: „Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“ Ich wusste, dass er seit seiner Auswanderung nach Schweden sehr religiös geworden war, aber wir hatten nie wirklich über dieses Thema gesprochen. Plötzlich wurde er nachdenklich und starrte gedankenverloren auf den See. Er antwortete mir nicht. Später sprachen wir noch über ein paar belanglose Dinge, um die unangenehme Stille zu durchbrechen, aber es blieb ein merkwürdiger Nachgeschmack. Ich konnte in dieser Nacht kaum schlafen, da mich die unbeantwortete Frage und weitere damit zusammenhängende Fragen nicht losließen. Lange lag ich auf dem Rücken wach im Zelt, an die Decke starrend, und hing den Gedanken nach, die in meinem Kopf Karussel fuhren. ‚Warum hat er nicht geantwortet? Will er nicht, dass ich weiß, woran er glaubt? Oder weiß er es vielleicht selbst nicht? Ich muss es wohl einfach selbst herausfinden. Es scheint, je mehr ich lerne, desto weniger weiß ich. Vielleicht ist es aber auch gar nicht wichtig, was wir wissen, schließlich ist unser Geist kein Gefäß, das gefüllt werden muss. Wenn wir ihn auffüllen, dann tragen wir viel zu viel mit uns herum, werden von unseren eigenen Gedanken kontrolliert, hin- und hergeworfen, gefangen genommen. Wir müssen uns aus diesem Gefängnis befreien, alles von uns abwerfen, unseren Geist anzünden wie ein Feuer. Nur so können wir völlig präsent sein im jeweiligen Moment und das Leben in uns aufsaugen. Vielleicht ist das Geheimnis des Lebens, alles in der Gewissheit zu tun, dass es aus einem Grund geschieht und dass es einen Sinn ergibt und aus dieser Gewissheit Kraft und Vertrauen zu schöpfen, durch diese Kraft und dieses Vertrauen Entschlossenheit und Überzeugung zu gewinnen, mit dieser Entschlossenheit und Überzeugung seinen Geist anzuzünden, zu brennen und sich mit Menschen zu umgeben, die in die Flammen blasen, so dass sie lustig und fröhlich umhertanzen und Licht und Wärme verbreiten.’ Ich dachte an das Zitat von Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ Es schien mir, als gäbe es einen Haken daran. Und ich überlegte weiter ‚Müsste es nicht viel eher ich nehme wahr, also bin ich heißen? Unsere Wahrnehmung formt uns. Meine Wahrnehmung wird dadurch geschärft, dass ich den Moment lebe und dem Leben vertraue. Wenn ich weiß, wer ich bin und das Gesetz der Natur, das Weltwissen in mir spüre und durch mich wirken lasse, dann nehme ich wirklich wahr und dann bin ich. Dazu ist es mitunter nötig, alles loszulassen, was wir bislang in unserem Leben gelernt und gehört haben, denn mit allergrößter Wahrscheinlichkeit haben wir es von jemandem gelernt, dessen kopiertes und imitiertes Wissen wieder nur auf kopiertem und imitiertem Wissen basiert. Dieses hat ausgedient und wir brauchen dringend neue Erkenntnisse, aber um zu diesen zu gelangen, müssen wir uns von den alten frei machen, müssen wir neue Menschen werden. Das meiste von dem, was uns erzählt wurde, sind Lügen. Solange wir an diesen festhalten, können wir uns nicht verändern. Das Leben kann nur durch Transformation bestehen, alles, was stehen bleibt, stirbt. Seit ich verstanden habe, dass ich in einem Gefängnis aus meinen gesellschaftlich, kulturell und spirituell konditionierten Gedanken lebe, die mich in der Entfaltung meiner Persönlichkeit als Teil allen Seins einschränken, habe ich nach Weisheiten gesucht, die stark genug sind, die Gefängnisgitter aufzubrechen. Doch wie sollte eine Weisheit, die, wie alles andere in meiner Welt, auch aus mir entstanden ist, stark genug sein, ein ganzes Konstrukt aus tief verankerten Gedanken zu zerstören? Auch dies ist nur ein Gedanke und die Gedanken werden niemals sich selbst zerstören. Der Weg aus dem Gefängnis ist so einfach, dass man ihn leicht übersieht: die Mauern, die uns einschließen, lösen sich in Luft auf, wenn wir aufhören, die Gedanken, aus denen sie bestehen, zu denken. Wir können die Gedanken nicht bekämpfen, denn sie sind aus uns selbst heraus entstanden. Wir müssen sie annehmen als unser Werk und erkennen, dass sie verfälscht, manipuliert und kontrolliert werden und uns eine verquere Sicht auf uns selbst und die Welt vermitteln. Nichtsdestotrotz können sie nur dann unsere Wahrnehmung verschleiern, wenn wir das zulassen. Schauen wir uns die Gedanken jedoch ganz genau und unvoreingenommen an, dann können sie uns viel lehren und uns den Weg zu unserem wahren Selbst weisen. Und dieses wahre Selbst ist nie Opfer, sondern immer Herr der Gedanken. Es kann sie gehen lassen und das Gefängnis verschwindet.’ Irgendwann schlief ich dann doch ein.

Am letzten Tag unseres Urlaubs brach ein starkes Gewitter aus. Der Himmel färbte sich pechschwarz und es begann wie aus Eimern zu gießen. Trotz der vermeintlichen Gefahr rief mich der Strand und ich musste gehen. Ich warf mir meine Laufsachen über, schlüpfte in die Schuhe und machte mich auf den Weg. Der Strand war nicht weit von unserem Zelt entfernt. Der von Steinen gesäumte Waldweg dorthin hatte sich bereits in einen reißenden Fluss verwandelt und meine Füße waren klitschnass, als ich den See erreichte. Ich ließ meine Schuhe im Sand stehen und lief barfuß los durch das immer wilder werdende Unwetter. Der Himmel brüllte energisch und schüttelte die Baumkronen hin und her. Wütend schlug mir der Hagel ins Gesicht. Es tat weh, aber es war ein süßer Schmerz, wie bei einer harten Massage, die einen gleichzeitig aufschreien und in genussvoller Hingabe seufzen lassen will. Es war wie ein spielerischer Kampf zwischen der Natur und mir, bei der unsere leidenschaftlich aufschäumenden Energien sich miteinander messen wollten. Ein Kampf, bei dem man sowohl gegeneinander als auch miteinander kämpft. Der Schauplatz war furchteinflößend, dennoch spürte ich die Fürsorge der Natur, die mich aufforderte, all meine Energien zu mobilisieren und mir im Gegenzug ihren Schutz bot. Unweit von mir schlugen Blitze ins Wasser ein und ließen dieses herrliche Naturschauspiel für Sekunden in all seiner Pracht aufleuchten. Weit und breit war außer mir keine Menschenseele zu sehen und ich fühlte mich ganz allein auf dieser Welt mit der wilden Bestie Natur, die mich in einem Atemzug hätte verschlingen können und mir doch immer wieder ihr Leben einhauchte und mich herausforderte, ihre enorme Kraft auch durch meinen kleinen Körper wirken zu lassen, den sie aufblies, als wäre er das ganze Universum. IHREN Regen fühlte ich auf meiner Haut, IHREN Sand nahm ich unter meinen Füßen war, IHR Wind blies von allen Seiten wild um mich und ich war das Wasser und die Erde und die Luft und in mir ihr Feuer. Das ist der Frieden der Wildnis. Nie könnte ich diesen tiefen inneren Frieden, diese unbändige Energie und wahnsinnige Liebe spüren, wenn ich bei Sonnenschein am Strand liege und einen Cocktail trinke. Das ist Erholung, ruhige Entspannung, angenehme Zufriedenheit, aber sie hat kein Feuer, sie schüttelt mich nicht, berührt nicht meinen inneren Kern, an dem ich das Leben in seiner reinsten Form wahrnehme, an dem ich das Leben in seiner reinsten Form bin.

Sarah Pankow